Goodwin Sands
Der Kirchhof des Meeres
Nein, ein Ausflug dorthin ist nicht ratsam, sind sie doch komplett vom Salzwasser umspült. „Ein Kirchhof ist’s, halb Meer, halb Land“, beschrieb Theodor Fontane 1847 die gefährlichen rund 19 Kilometer langen Sandbänke Goodwin Sands vor den Toren Kents, die zum Schicksal für mehr als 2000 Schiffe wurden. Bei Ebbe atmet der sandige Boden Sauerstoff, bei Flut lauert er auf seine nächsten Opfer dicht unter der Wasseroberfläche.
Einst sollen die Goodwin Sands eine der Küste vorgelagerte stolze reich blühende Insel gewesen sein. Ihr Name: Lomea. Es gibt nicht wenige, die Lomea das englische Atlantis nennen und damit offenkundig darlegen wollen, dass diese Insel, deren Namen erstmals 1590 schriftlich fixiert wurde, niemals existiert hat. Die Sandbänke an der ausgehenden Straße von Dover seien vielmehr durch die Strömungen natürlich gewachsen und keine Reste einer einstmaligen Insel, über die es praktisch keine Aufzeichnungen gibt.
Pah, das klingt doch viel zu langweilig, zumal doch Forscher im 19. Jahrhundert unter dem Sand eine Lehmschicht entdeckt haben wollten, die sie wieder zur Inseltheorie trieb. Lomea, das ist und bleibt ein Stoff für Legenden und Geschichten. So berichteten überlebende Seeleute immer wieder davon, vor dem Unglück auf den Sandbänken deutlich Kirchenglocken gehört und Lichter einer Ansiedlung gesehen zu haben – und zwar direkt vor ihnen, so dass sie sich schon in einem sicheren Hafen wähnten, als es plötzlich zur Katastrophe kam. Sahen sie Lomea, die prachtvolle Insel, die im großen Sturm von 1099 mit Mann und Maus von den Fluten geschluckt worden sein soll und deren Bevölkerung sich nun für ihr Unglück an anderen Unschuldigen rächt?
Die größte tatsächlich nachgewiesene Katastrophe ereignete sich Ende November 1703, als ein gewaltiger Sturm fünf Kriegsschiffe und 40 Handelsschiffe manövrierunfähig auf die Sandbänke schickte. Allein auf den Kriegsschiffen dienten 1200 Mann. Weniger als 100 überlebten die Katastrophe. 1980 lokalisierten Taucher das Wrack der HMS Restoration, eines jener fünf Kriegsschiffe, das schlachterprobt erst ein Jahr vor dem Sturm in den Docks von Portsmouth runderneuert worden war. Sie war mit 70 Kanonen ausgestattet.
Einige der Schiffe, die mit Mann und Maus von der Bildfläche verschwanden, will man später als Geisterschiffe in den Gewässern wieder gesichtet haben. So etwa den mit drei Masten ausgerüsteten Schoner “Lady Lovibond”, der dort am 13. Februar 1748 sank.
Die Geschichte ist eine menschliche Tragödie. Danach warben der Kapitän des Schiffes wie auch dessen erster Maat um die Gunst einer Frau namens Annetta. Der Kapitän, Simon Read (andere Quellen nennen ihn fälschlicherweise Peel), machte das Rennen. Er feierte dann mit ihr an Bord des Schiffes mit einer Gesellschaft ausgelassen Hochzeit. Doch John Rivers, der unterlegene Maat, konnte damit nicht leben. Er wartete bis es dunkel wurde, tötete dann den Steuermann und navigierte das Schiff unbemerkt auf die Sandbank. Exakt 50 Jahre nach diesem Vorfall, also am 13. Februar 1798, gibt der Master des Küstendampfers “Edenbridge” zu Protokoll, vor der kentischen Küste fast mit einem anderen Schiff kollidiert zu sein. Der Name des fremden Schiffes: “Lady Lovibond”.
Auch für die 13. Februare der Jahre 1848, 1898 und 1948 werden Begegnungen mit der Lady Lovibond gemeldet. Na ja, 1948 angeblich. Was die beiden anderen Daten angeht, wurde wohl in der einen oder anderen “Quelle” geflunkert, um es spannender zu machen. Aber nehmen wir nur für einen Augenblick an, es wäre so gewesen, dann wäre es wohl so, dass das in Unschuld ertrunkene Liebespaar alle 50 Jahre eine Chance erhält, das Schiff wieder in einen sicheren Hafen zu bringen. Doch wusste dies der fiese Maat offensichtlich immer wieder zu verhindern.
Was war aber 1998? Am 13. Februar 1998 wurde trotz aller Anstrengungen keine “Lady Lovibond” gesichtet. Was mag das bedeuten? Entweder haben die Geister nun doch ihren Frieden gefunden und bleiben für immer unter dem Meer oder der Kapitän hat seinerseits in einer Nacht und Nebelaktion endlich den Maat ausgetrickst und ist mit seiner Braut von allen unbemerkt auf das englische Festland gelangt. Eine wirklich zutiefst britische Vorstellung, dass die Beiden dort nun glücklich ihr geklautes Leben nachholen und genießen dürfen.
Aber halt. Was war das denn gerade für eine Geschichte? Ging die “Lovibond” der Legende nach nicht mit Mann und Maus unter? Wer will denn dann noch die Geschichte dazu erzählt haben? Wer will den armen Rivers unterstellen, seine Gefühle nicht im Griff gehabt zu haben? So entstehen also Geschichten, werden weitererzählt und entwickeln sich zum über jeden Verdacht erhabenen Ghost-Story-Selbstläufer. Der Wahrheitsgehalt ist, abgesehen vom Namen des Schiffes und dem Fakt, dass es gesunken ist, wohl gleich null. Aber es hört sich alles so schön dramatisch an, dass wir gerne daran glauben möchten. Ach, und wer weiß, 2048 kommt bestimmt und dann können wir selbst Zeuge einer riesigen Sensa….., nein doch wohl eher riesigen Enttäuschung werden.
Egal. Es gibt ja noch andere Schiffsbesatzungen, die dazu verdammt sind, ewig auf dem Meer zu bleiben. Etwa die Crew eines jener Schiffe, die einmal zur berühmten spanischen Armada gehörten. Der Legende nach soll die spanische Mannschaft, nachdem das Schiff schon durch die Engländer stark in Mitleidenschaft gezogen worden war, gemeutert und in blinder Wut sämtliche Offiziere erschlagen haben. Anschließend schipperte das Schiff ohne Navigator und Steuermann seinem Untergang bei Goodwin Sands entgegen. Seither warten die Soldaten darauf, dass ihr Schiff entdeckt und gehoben wird, damit sie erlöst werden können. Nein, ich stelle nicht mehr die Frage, wer nun diese Geschichte erzählen konnte, wo es doch auch hier keine Überlebenden gab….