Goudhurst
Die Hawkhurst Gang – Paten von Carver Doone?
Es mag einfach erscheinen, doch ist es eine hohe Kunst, real existierende Menschen, vor allem Zeitgenossen, mal einfach so zu Romanfiguren zu machen, ohne sie zu beleidigen, bloß zu stellen oder lächerlich zu machen. Charles Dickens war darin Profi. Und es machte ihn wohl auch nichts aus, diesbezüglich der Literaturwissenschaft deutliche Spuren zu hinterlassen. Andere Autoren mögen da umsichtiger vorgegangen sein, um ihre Quellen nicht zu verraten. Und das kann durchaus zu sehr abenteuerlichen Theorien führen. Aber warum nicht? Neue Ansätze können eingefahrene Forschungsergebnisse entstauben, den Weg frei machen zur Entdeckung bisher nicht bemerkter Zusammenhänge.
In Zeiten der Schmuggler gab es in Kent eine Truppe, die sich offensichtlich von anderen stark unterschied. Der Nachwelt ist diese Truppe als Hawkhurst Gang überliefert, die tatsächlich von dem kleinen Nest nahe der Grenze zu Sussex aus den Küstenabschnitt bis nach Dorset kontrolliert haben soll. Auch auf der Isle of Sheppey soll sie ihr Unwesen getrieben haben. Die Hawkhurst Gang trug Züge einer Bande Gesetzloser, die nicht nur schmuggelte, sondern auch räuberte und brandschatzte. Unter der Führung von Thomas Kingsmill ging es Mitte des 18. Jahrhunderts ordentlich zur Sache.
Die Gang verbreitete, wo sie nur auftauchte, Angst und Schrecken, niemand stellte sich ihr in den Weg, und wer zufällig ihren Weg kreuzte, wenn die Männer in Plünderlaune waren, verlor ganz schnell mal so eben sein Leben. Irgendwie hört sich die Geschichte bekannt an. Wo hat man das schon mal gehört und wo spielte es? Nicht in Kent. Genau, viel weiter westlich: im Exmoor. Dort lässt ein gewisser Richard Doddridge Blackmore seinen literarischen Bösewicht Carver Doone seine Kreise ziehen. Der Doone-Clan besteht aus Gesetzlosen aus Schottland, der über eine üble Erbschleicherei an Geld, Ruhm und Einfluss kommen will. Carver soll dazu die hübsche und junge Lorna Doone heiraten, die in Wirklichkeit von seinem Großvater als Baby einer königsnahen Familie entführt wurde und eine Erbin eines bedeutenden Titels ist. Ja dieser Carver Doone wird in Blackmores Roman als Anführer einer aus purer Lust plündernder Reitertruppe eingeführt, der auch nicht davor zurückschreckt, einen Mann, der sich einem seiner Gefolgsleute in den Weg stellte, zu erschießen.
Genau so sollen die Gang-Mitglieder unter Thomas Kingsmill draufgewesen sein, Kannte Blackmore die Geschichte der Hawkhurst Gang? Oder fragen wir mal so: Warum sollte er sie nicht gekannt haben? Blackmore lebte zur Zeit von Queen Victoria. Die Geschichte der Hawkhurst Gang war sicher keine lokal begrenzte Geschichte.
Jedenfalls waren Kingsmill und seine Kumpanen genauso überheblich und von sich selbst so eingenommen wie jener Carver Doone, dass sie es ihren Feinden am Ende so was von leicht machten, sie zu besiegen, weil sie es sich im Traum nicht vorstellen konnten, dass sich jemand trauen würde, die Waffe gegen sie zu erheben.
Alles fing damit an, dass Thomas Kingsmill davon hörte, dass es in Goudhurst plötzlich einen Mann geben sollte, der dort das Kommando übernommen und die Farmer zum Widerstand aufgerufen hat. Dieser jemand hieß William Sturt. Er war 29 Jahre alt, verfügte über eine militärische Ausbildung, war kampferprobt und hatte als Soldat von der Welt schon einige Fleckchen gesehen, unter anderem hatte er in Jamaica gedient. Als dieser Mann also 1747 wieder in seinen Heimatort Goudhurst kam, war es für ihn gar keine Frage, der Hawkhurst Gang die Stirn zu bieten. Kingsmill überlegte sich sofort eine Strafaktion, um allen unmissverständlich zu zeigen, wer in der Gegend das Sagen hat. Er ging dabei so tollkühn vor, dass er den “Straf-Feldzug” direkt ankündigte, und das auf Tag und Stunde genau. Völlig von sich eingenommen beschäftigte er sich keine Sekunde mit dem Mann, den er maßregeln wollte. Fataler Fehler.
Sturt organisierte derweil in Goudhurst den Widerstand, ließ die Männer Gräben ausheben und dahinter Barrikaden errichten. Gute Gewehrschützen wurden zudem auf den umliegenden Hausdächern postiert. Und so erwartete Sturt den Angriff in den Morgenstunden des 20. Aprils 1747. Und die Hawkhurst-Gang bewies wenigstens eine Tugend, in dem sie pünktlich auf der Bildfläche erschien. Angeführt von Thomas und seinen Brüdern Richard und George Kingsmill. George war schon auf Betriebstemperatur, schwor, dass Blut fließen und er am Abend mindestens vier Herzen seiner Feinde essen würde. Wieder falsch gedacht.
Kurz nachdem seine Männer das Feuer eröffnet hatten, lag er selbst auch schon auf dem Boden, getroffen von einer der ersten Kugeln, die die Bürgerwehr von Sturt auf die Gang gerichtet hatte. Thomas sah ihn da liegen, konnte ihm aber nicht helfen, auch ihm flogen die Kugeln um die Ohren. Die Schießerei war nicht von langer Dauer. Die Gang-Mitglieder begriffen, dass sie in der Falle saßen und traten schnell den ungeordneten Rückzug an, nicht ohne mindestens zwei weitere Verluste zu erleiden. George erlag seiner Schußverletzung und wurde offensichtlich in Goudhurst beigesetzt. Wer beim Rückzug nicht schnell genug aus Goudhurst herauskam, wurde gefangengenommen. Thomas Kingsmill entkam für diesen Tag, doch wurde er nach weiteren schweren Straftaten festgenommen und vor Gericht gestellt. Er wurden zum Tode verurteilt und starb genau zwei Jahre und sechs Tage nach der “Battle of Goudhurst” in Tyburn, London, an Handschellen gekettet durch den Strang. Sein Tod markierte den Tag eins des Niedergangs der gefürchteten Hawkhurst-Gang, die sich vom Verlust ihres skrupellosen Anführers nicht mehr erholte.
Und Sturt? Er gewann das Herz von Ann Beeching, einer jungen Frau aus der Gegend. Die beiden heirateten 1753 und hatten zwei Kinder miteinander, wovon eines jedoch schon 1756 starb. Sie genossen nur bis zu zehn Ehejahre, vielleicht auch drei, zwei oder eins weniger. Irgendwann zwischen 1760 und 1763 starb Ann, denn es lässt sich in den Kirchenbüchern von Goudhurst ein Eintrag finden, der die Hochzeit von William Sturt und Elizabeth Dudley bekannt gibt. Sturt wird dabei als widower beschrieben. Mit Elizabeth lebte er in Goudhurt bis zu deren Tod 1791. Am 25. Juni 1797 endete dann auch das Leben des Local Hero von Goudhurst.
Ob William Sturt auch noch das Vorbild des literarischen John Ridd ist, der Lorna Doone aus den Fängen der Outlaws Carver Doone befreit? Eine weitere These, die eigentlich sehr gut ins Bild passen würde.
Dass Blackmore die Handlung für seinen Roman “Lorna Doone” komplett erfunden hat, darf sehr bezweifelt werden. Auch er nahm Anleihen. So geht die Idee, dass Carver Doone Lorna an ihrem Hochzeitstag in der Kirche niederschießt auf ein Ereignis von 1641 zurück, das sich nicht im Exmoor, sondern im Dartmoor zugetragen haben soll. Dort wurde die Braut Mary Whiddon während der Hochzeitszeremonie von ihrem Ex-Lover niedergeschossen. Anders als im Roman “Lorna Doone” überlebte Mary Whiddon diesen feigen Anschlag auf ihr Leben nicht.
PS:
Geschichten werden ja gerne mal anders erzählt, anders ausgeschmückt. Das gilt auch für die Geschichte rund um die Schießerei in Goudhurst. Die Quellen widersprechen sich zum Teil bei Namen und auch beim Datum der Auseinandersetzung. Für Sturt werden neben William auch die Vornamen George und John verwendet. Auch wenn mehrere Quellen George favorisieren, dürfte William richtig sein, schließlich gibt es ja noch die Lokalhistoriker, die gerne mal in die Kirchenbücher schauen und dort heißt Sturt nun mal William.
Das Datum der “Battle of Goudhurst” dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach auch der 20. April 1747 gewesen sein, andere Quellen gehen vom 21. April aus. Und ja, ganz schwierig wird es mit den Kingmills. Da ist von bis zu drei Brüdern die Rede, die mitunter unterschiedliche Schicksale erleiden. Gesichert ist, das Thomas Kingsmill als Anführer agierte und nach weiteren unrühmlichen Taten gefangengesetzt und wie oben beschrieben gehängt wurde. Wenn es George Kingsmill gab, ist es sehr wahrscheinlich, dass er bei der Schießerei in Goudhurst starb. Wikipedia “weiß” jedenfalls nur über Thomas aufzuklären. Eine andere Quelle, die durchaus als wissenschaftlich anzunehmen ist, macht aus Thomas mal einfach so einen “William”. Eine weitere Quelle ignoriert Thomas auch und ersetzt ihn mit George. Ein Richard als dritter Bruder kommt nur sporadisch vor.
Quellen:
Mary Waugh: “Smuggling in Kent and Sussex 1700 -1840”, reprinted 2008
Martin Hackett: “Lost Battlefields of Britain”
Alan Bignell: “Tales of Kent”, new Edition 2011
Sally and Chips Barber: “Dark and Dastardly Dartmoor”, 1992
Internet:
The Official Site for the Goudhurst& Kilndown Local History Society
Wikipedia