London
Vor dem Tod gerettet, nur um gehängt zu werden
Ohne Perspektive, ohne Hilfe, ohne Hoffnung. Mary hat sich entschieden. Diese Welt hat ihr nichts mehr zu bieten, sie hatte der Welt nichts mehr zu bieten. 36 Jahre hat sie gekämpft um ein kleines persönliches Glück. Im Frühjahr 1844 springt sie zusammen mit ihrem 18 Monate alten unehelich gezeugten Sohn in den Regent’s Canal, um nie wieder aufzutauchen. Doch Mary Furley tauchte wieder auf, weil sie von Thomas Gardner, einem Kahnführer, gerettet wurde. Gerettet, nur um weiter gequält zu werden. Denn ihr 18 Monate alter Sohn überlebte den Sprung ins Wasser nicht. Somit hatte sie ihn getötet. Darauf stand genau das, was sie sich durch den Sprung in den Canal erhofft hatte: der Tod. Sie erwartete aber nun ein gerichtlich angeordneter Tod durch Erhängen. Was die arme Frau wohl gedacht haben muss? Sie wurde gerettet, nur um sterben zu müssen. Und dann die Wende: ausgerechnet ihr Fall wurde Gegenstand einer außergewöhnlichen politischen Debatte über die Armut in der Stadt London. Prominente Fürsprecher schlugen sich auf die Seite Mary Furleys und verlangten die Aufhebung des Todesurteils.
Auf der Straße stehend ohne Mittel, ereilte sie das Schicksal, Insasse eines „Workhouse“ in Bethnal Green zu werden. Mit dabei waren ihre beiden Kinder, ein Vierjähriger und der oben erwähnte 18 Monate alter Junge. Ihr älterer Sohn bekam Läuse, so dass ihm die Haare abgeschnitten werden sollten. Diese Arbeit führte ein offensichtlich volltrunkener Barbier aus, der das Kind erheblich am Kopf verletzte. Mary hielt das Klima im Workhouse nicht mehr aus, nahm ihren jüngeren Sohn und versuchte irgendwo außerhalb des Workhouse Arbeit zu finden. Es gelang ihr, sich als Näherin ein kleines Einkommen zu sichern, das aber noch längst nicht ausreichte, um schnell ein unabhängiges Leben anfangen zu können. Als ihr auch noch das wenige Geld gestohlen wurde, mit dem sie neue Stoffe kaufen wollte, wuchs ihre innere Verzweiflung so stark, dass sie ihrem Leben ein Ende setzten wollte.
Es war eine Zeitung, die sich massiv einmischte und für Mary Furley Partei ergriff. The Times schrieb deutlich und unmissverständlich: No, the rich, the respectable, the comfortable members of society cannot imagine, cannot picture to themselves, a condition so deplorably miserable as to prompt a woman to infanticide. Let them be thankful that they cannot; but let them show their humility and their gratitude by judging lightly of a fellow creature.
Der gebürtige Londoner Schriftsteller Thomas Hood mischte sich ebenfalls in die öffentliche Debatte ein. Marys Schicksal war Auslöser für eines seiner best known poems „The Bridge of Sighs“. Dabei geht es letztendlich um Selbstmörder, die von der Waterloo Bridge in die Themse springen.
Und noch ein Literat machte Mary unsterblich: Charles Dickens, der zuvor auch öffentlich für das Leben der Frau eingetreten war. Im Herbst 1844, ein Jahr nach seinem großen Erfolg „A Christmas Carol“ veröffentlichte er „The Chimes“, einen Roman, der in der damaligen Gegenwart spielte und die Nöte der armen Menschen beleuchtete. Marys Verzweiflung und ihr Selbstmordversuch wird in Dickens Roman über seine Figur Meg, die Tochter seines Haupt-Charakters Trotty Veck, thematisiert.
Mary Furleys Fall war keineswegs der erste, der von der Presse aufgegriffen wurde mit dem Ziel, die Frau vor dem Todesurteil zu retten. Schon vor ihr standen viele Frauen vor Gericht, die aufgrund ihrer Armut keinen Ausweg mehr sahen, als ihre kleinen Kinder, oftmals Neugeborene, zu töten. Sie alle wurden gehängt. „The Times“ blieb aber bei ihr besonders hartnäckig, widmete ihr mindestens sieben Artikel. Und dann war da noch Erzdiakon Henry Manning, der erstmals in der Regierungszeit von Königin Victoria das Schweigen der Kirche zum Thema Prostitution brach und Männer anklagte, der Auslöser für diese Frauen- und Kinderschicksale zu sein.
Am 26. April erhielt Mary die Nachricht, dass ihr Todesurteil endgültig bestätigt wurde und es am 8. Mai vollstreckt werde. Mary erlitt einen Zusammenbruch. Dann folgte ein Wechselbad der Gefühle. Denn tatsächlich nur einen Tag später wurde das sichere Todesurteil plötzlich umgewandelt. Sie sollte deportiert werden nach Australien, um dort sieben Jahre als Gefangene beim Aufbau der Kolonie zu helfen. Sie habe sich während der „Tat“ „in great distress of the mind” befunden und verdiene eine zweite Chance.
Eine andere Zeitung schrieb dazu: Wenn das die königliche Gnade sein soll, was ist dann die Härte?
Was aus Mary Furley wurde, ist leider nicht herauszubekommen.
Quellen:
Sydney O’Hare “Wilful” Women: Representations of Female Murderers in The London Times from 1805 to 1880; HST 390: Crime and Punishment Spring 2018 Dr. Lisa Sigel
Annabel Rutherford, York University, Canada
The Curious Case of Mary Furley
Josephine McDonagh, Lecturer School of English and American Studies: Child Murder and British Culture, 1720-1900
Internet:
www.oldbaileyonline.org Mitschrift der Zeugenaussagen und der Angeklagten vom 8. April 1844
victoriancalendar.blogspot.com